Homepage von Birgit Böckli
Ein großer Traum
Henry Dunant wußte nicht, was plötzlich in ihn gefahren war. Seit Tagen hatte er sich zur Eile angetrieben, hatte beschwerliche Umwege in Kauf genommen, um den französischen Truppen auszuweichen. Zu groß war die Angst, aufgehalten zu werden und seine Reise nicht fortsetzen zu können. Er durfte diese einmalige Gelegenheit nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, ein Interesse Napoleons an dem neuen Projekt in Algier konnte all seine finanziellen Sorgen mit einem Schlag beenden.
Anstatt jedoch das Tageslicht zu nutzen und sich nach einer kurzen Rast erneut auf den Weg zu machen, stand er nun auf einer der Anhöhen und blickte stumm auf das unglaubliche Schauspiel hinab. Ein Teil von ihm mahnte auch jetzt zum Aufbruch, doch der Anblick der aufziehenden Heere ließ ihn einfach nicht los.
Gebannt beobachtete er, wie sich unten in der Ebene die feindlichen Linien einander annäherten; die bunten Waffenröcke der Soldaten, die unzähligen Bajonettspitzen, die wie ein Wald aus silbernen Dornen unter ihm dahinzogen, ließen ihn ehrfürchtig innehalten.
Es mußten Hunderttausende sein.
Nur kurze Zeit später kam Bewegung in die Massen, erklang das Feuer der Artillerie, während von verschiedenen Seiten die Hörner zum Angriff bliesen. Die Kavallerie preschte vor, und die Detonationen der Kanonenschüsse ließen die Erde erbeben.
Innerhalb weniger Minuten war der Zauber verflogen, die prächtige Anordnung der einzelnen Batterien wich einem blutigen Chaos, mit dem das Grauen seinen Einzug hielt.
Später konnte Henry sich nicht mehr genau daran erinnern, was ihn so plötzlich bewogen hatte zu handeln.
Es mochte der Anblick der ersten Verwundeten gewesen sein, die entsetzlichen Schreie der Männer, die sich mit aufgerissenen Leibern zuckend im Staub wanden. Seine Geschäftsreise, die ihm so viele Mühen abverlangt hatte, erschien ihm mit einmal vollkommen unwichtig.
Das Zelt erhob sich blaß gegen den rauchigen Himmel. Schon aus einigen Metern Entfernung waren die Stimmen zu hören, Anweisungen der Ärzte, in einem gehetzten und unfreundlichen Tonfall vorgebracht, mischten sich mit dem Stöhnen der Verwundeten. Gerade wurde ein junger Mann hereingetragen, aus der zerfetzten Uniformhose ragte ein blutiger Beinstumpf hervor.
Die beiden Träger legten den Bewußtlosen auf einer schmutzigen Decke ab und entfernten sich eilig.
Der Lärm, der vom Schlachtfeld herüberdrang, war zu einem Inferno angeschwollen, Schüsse, Schreie und das Donnern der Kanonen übertönten die Rufe der fünf Männer, die sich hier verzweifelt um ein Mindestmaß an Hilfe für die Bedauernswerten bemühten. Die Enge, das verzweifelte Ringen um Leben, die nur noch an dünnen Fäden hingen, all das zehrte an den Nerven. Hinzu kam der unbeschreibliche Gestank, der einen kaum atmen ließ.
Henry Dunant trat bestürzt einen Schritt zur Seite, als sich ein kräftiger Mann mit silbrigem Haar den Weg durch die Reihen bahnte. Die Schürze, die er vor dem Leib trug, triefte von Blut wie nach einer Schlachtung.
Ein weiterer Arzt kam ihm entgegen, er neigte sich über einen Bewußtlosen und zerrte in Eile die schmutzige Binde herunter, die um dessen Arm gewickelt war.
Entsetzt beobachtete Henry, wie er sie in eine Schüssel trüben Wassers eintauchte und sich damit in eine andere Richtung entfernen wollte.
Aus der Schulter des Mannes, aus der das Gelenk wie ein knöchernes Mahnmal hervorschaute, spritzte Blut.
„Was tun sie denn?“ rief Henry. „Der Mann wird sterben.“
Eine unerträgliche Übelkeit forderte ihn beinahe in die Knie. Der Arzt sah ihn mitleidig an, seine Lippen zitterten.
„Für den ist es sowieso zu spät“, entgegnete er mit düsterer Stimme. „Da hinten liegt einer, der den Verband dringender braucht.“
„Lassen Sie mich helfen“, bat Henry.
Der junge Arzt warf einen zweifelnden Blick auf den Mann, der da in seinem feinen weißen Anzug im Eingang des Zeltes stand, und zuckte die Schultern.
„Bitte, wir können jede Hand gebrauchen. Aber machen Sie sich keine großen Hoffnungen. Wenn wir nur jeden zehnten retten können, haben wir schon ein kleines Wunder vollbracht.“
Obwohl die Lazarette durch die schwarzen Flaggen eindeutig gekennzeichnet waren, schlug kurz darauf eine Kanonenkugel ein, wenig später eine zweite.
„Wie können die nur auf Verwundete schießen?“ empörte sich Henry, doch niemand schien seine Aufregung zu teilen.
Selbst die Zeit gehorchte an diesem Ort ihren eigenen Regeln; alles was Henry bemerkte, war eine zunehmende Erschöpfung seiner Glieder, während der überwache Geist ihnen ohne Pause weitere Arbeiten auftrug. Jede Form eigenständigen Denkens versiegte angesichts dieser Situation, die weit über alles Vorstellbare hinausging. Gemeinsam mit den Ärzten bettete er die hereinkommenden Männer auf Decken und Liegen, versorgte Wunden, half dabei, sie festzuhalten, wenn ihnen der Doktor ein Bein oder einen Arm amputieren mußte, ließ sie auf Holz beißen und dennoch um ihr Leben brüllen, bis die erlösende Ohnmacht sie in ihre Arme schloß.
Es hatte nicht lange gedauert, bis sie ihn als Helfer akzeptiert hatten, bis aus dem seltsamen Fremden im feinen Reiseanzug einer von ihnen geworden war. Hunderte hatten sie inzwischen hereingebracht, tausende lagen weiterhin da draußen und bedurften ärztlicher Hilfe, jeder der Männer mußte erkennen, wie aussichtslos ihre Bemühungen waren. Und während auf dem Schlachtfeld immer unerbittlicher gekämpft wurde, die Soldaten nach dem Verlust ihrer Waffen noch mit den bloßen Fäusten auf ihre Gegner einschlugen, während sich die Situation in der Ebene von Solferino unerträglich zuspitzte, setzte der Regen ein.
Henry hatte schon vor einigen Minuten darauf hingewiesen, wie stark sich der Himmel zuzog, doch als die Tropfen immer schwerer und zahlreicher zur Erde fielen, wußte er, daß dieser Tag in einer Katastrophe enden würde.
Als am nächsten Morgen die Sonne durch die Wolken kroch, wurde das Ausmaß ersichtlich. Wie in einem Alptraum schritt Henry an tausenden Toten und Verletzten vorbei. Sie lagen an Bachufern, auf den Hügeln, über- und nebeneinander, dazwischen die Leiber unzähliger toter Pferde. Der Regen hatte die Erde vollständig aufgeweicht, und die Temperaturen waren in der Nacht empfindlich gefallen. Er sah die Männer fröstelnd im Schmutz liegen, bedeckt von Schlamm und ihrem eigenen Blut, und die Sehnsucht, diesen Menschen zu helfen, brannte wie ein Feuer in seinen Gedanken. Allen zu helfen.
In den folgenden Tagen wurde ihre Lage nicht einfacher. Es fehlte an allem, sie hatten kein Verbandsmaterial, kein sauberes Wasser, und die wenigen Medikamente waren längst aufgebraucht. Auch wenn die Dorfbewohner hilfsbereit reagierten, so stieß Henry doch rasch auf Widerstände.
„Wir sollen den Franzosen beistehen?“ fragte ihn eine der älteren Frauen. „Warum sollten wir das tun? Mein Mann ist in diesen verdammten Krieg gezogen und zwei meiner Söhne. Keiner von ihnen ist zurückgekehrt. Und nun kommen Sie, und verlangen von mir, den Feinden zu helfen?“
„Nicht den Feinden“, sagte Henry und beugte sich über den jungen Soldaten, der mit verrenkten Gliedern im Staube lag. Er wunderte sich selbst, wie das Lächeln plötzlich den Weg auf sein Gesicht gefunden hatte. „Auch dieser hat irgendwo eine Mutter, die um ihn bangt. Nicht den Feinden sollt ihr helfen. Aber den Brüdern.“
Die Frau faltete die Hände, und Henry glaubte zu sehen, wie in ihrem Herzen eine Mauer brach.
Es dauerte nicht lange, bis auch die übrigen Dorfbewohner sich mit aller Kraft dafür einsetzten, den Überlebenden zu helfen. Lebensmittel wurden herbeigeschafft, Verbandsstoffe und Wasser, und immer wieder war dieser eine Satz zu hören, der zu einer Losung der Frauen von Solferino geworden war.
„Alle sind Brüder.“
Jahre später wurde Henry Dunants Vision Wirklichkeit, als auf seine Anregung hin eine internationale Organisation entstand, die sich um die Versorgung aller Verwundeten kümmerte. Auch die schwarzen Fahnen verschwanden nach und nach aus den Lazaretten und wurden durch ein neues Symbol ersetzt.
Ein rotes Kreuz auf weißem Grund.
Ein Zeichen der Hoffnung bis heute. |