Homepage von Birgit Böckli


Überall, wo es eBooks gibt

Jetzt auch als Taschenbuch

 

Vorab exklusiv als neobooks eBook:Auf Spiekeroog treibt ein Mörder sein Unwesen. Die Insulaner schließen von vornherein aus, dass der Täter einer von ihnen ist. Diese eingeschworene Haltung der Friesen erschwert die Ermittlungen der beiden Hauptstadtkommissare Thomas Berg und Freda Althuis erheblich. Und der Sturm, der sich vor der Insel zusammenbraut, wird bald alle Spuren verwischen ...
„Birgit Böckli ist eine überaus vielversprechende junge Autorin. Ich freue mich sehr auf ihren ersten Roman und bin sicher, dass er eine große Leserschaft begeistern wird." Tanja Kinkel

 

Leseprobe

 

Prolog


Die Kälte stach sie wie mit eisigen Nadeln. Sie hatte keine
Lust gehabt, weiter unter dem Vordach zu warten,
wo jeder Idiot sie anstarren konnte, also hatte sie sich an
den Rand des Parkplatzes zurückgezogen.
Jetzt fing es auch noch an zu regnen.
Punkt elf, hatte Thomas gesagt, keine Minute später. Inzwischen
war es beinahe halb eins, und ihr Bruder war
noch immer nicht aufgetaucht.
Mit zittrigen Fingern suchte Kerstin in ihrer Jackentasche
nach dem Handy, um einen letzten Versuch zu starten, als
die Tür der Disco aufschwang und ihr das Wummern der
Bässe in den Magen fuhr. Ein junger Mann in einer leuchtend
grünen Jacke kam die Stufen herunter.
Kerstin spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
Die paar Autos, die noch übrig waren, konnte sie an einer
Hand abzählen. In einer halben Stunde würde der Laden
schließen, dann wäre sie ganz alleine hier draußen …
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie der Mann auf sie
zukam.
»Wie bitte?«
»Ich hab dich gefragt, ob du mitfahren willst. Oder stehst
du gern hier im Regen herum?«
Einen Moment lang starrte Kerstin ihn unentschlossen an.
Sie war noch niemals zu einem Fremden in den Wagen gestiegen.
Zu viele Horrorgeschichten hatte man ihr im Laufe
ihres Lebens erzählt. Aber sollte sie vielleicht hier draußen
übernachten?
Als sie nicht antwortete, zuckte er gleichgültig die Schultern.
»Dann eben nicht.«
Erst das Aufheulen des Motors riss Kerstin aus ihrer Lethargie.
Mit wenigen Schritten hatte sie den Toyota erreicht.
Im Wageninneren roch es nach kaltem Rauch. Der Typ,
der sich noch immer nicht vorgestellt hatte, angelte im
Fußraum nach einer Dose Bier.
»Gehst du noch zur Schule?«, fragte er und fummelte am
Radio herum, während sie das Industriegebiet hinter sich
ließen. »Wie alt bist du überhaupt?«
Kerstin versuchte, entspannter auszusehen, als sie sich
fühlte. »Achtzehn«, log sie.
Er lachte schallend, trank einen Schluck Bier und klemmte
sich die Dose zwischen die Oberschenkel. »Du bist niedlich,
wenn du lügst, weißt du das?«
Irgendetwas in seinem Blick hatte sich verändert. Kerstin
spürte, wie sich vor lauter Angst ihr Magen zusammenzog.
Sie musste sich zusammenreißen, durfte sich ihre
Furcht auf keinen Fall anmerken lassen. Während sie
krampfhaft den Seitenstreifen im Auge behielt, nahm sie
von der Fahrerseite eine Bewegung wahr. Dann spürte sie
seine Hand auf ihrem Knie.
»Lass das.« Ihre Stimme klang viel zu leise.
Seine Finger spielten am Saum ihres Rockes.
Panik erfasste Kerstin so plötzlich, dass sie kaum atmen
konnte.
»Komm schon. Nun hab dich nicht so.«
Kerstin presste die Knie zusammen. »Wenn du nicht sofort
aufhörst …«
»Was dann?«, fragte er lachend und griff fester zu.
Ihr wurde übel. Warum nur hatte Thomas sie nicht abgeholt,
warum war sie zu diesem Kerl ins Auto gestiegen?
Mit aller Kraft schlug sie seinen Arm zur Seite, sah, wie die
Bierdose zu Boden fiel und sich eine Lache zu seinen Füßen
bildete.
Dann tauchte der Laster aus dem Regen auf.


Freitag, 12. Juni

Thomas Berg vergrub die Hände in den Jackentaschen.
Das kurze Stück Straße erschien ihm endlos, lang genug
in jedem Fall, um die Frage wieder aufkommen zu
lassen, ob er das Richtige tat. Eine Nacht lang war er sich
dessen sicher, doch der Anblick der rotgeziegelten Häuschen
genügte, dass er abermals an seiner Entscheidung
zweifelte.
Die Kirchturmuhr schlug gerade erst neun, als er in den
Wüppspoor einbog. Von den zahlreichen Feriengästen, die
Spiekeroog in den Sommermonaten heimsuchen würden,
war noch nichts zu sehen. Sonnenstrahlen tanzten auf dem
Pflaster, beinahe wie eine stumme Einladung.
Schon gestern war er zweimal um das Haus mit der Nummer
17 herumgeschlichen, hatte die grüngestrichene Tür
aus sicherer Entfernung betrachtet wie auch das beleuchtete
Schild mit der Aufschrift POLIZEI. Nun gab es kein
Zurück mehr.
Das Rosenbäumchen neben dem Eingang sah verkümmert
aus, ein paar Knospen waren abgefallen.
Berg holte tief Luft und drückte den Klingelknopf. Er
drückte ihn lange.
Hinter dem Milchglas tauchte ein Schatten auf, dann
schwang die Tür nach innen auf. Der Mann, der vor ihm
stand, hätte leicht den Türrahmen füllen können, wäre er
nur ein wenig aufrechter gestanden. Lächelnd musterte er
Berg von Kopf bis Fuß und stützte sich dabei auf einen
Besen, der schon bessere Tage gesehen hatte.
»Bist du der Neue?«, fragte er freundlich und nickte im
gleichen Atemzug. »Sicher bist du’s. Ich bin Erik Johanssen.
Willkommen auf der Insel.«
Aus dem Dunkel des Flurs tauchte ein uniformierter
Mann auf, einige Jahre jünger als Johanssen, aber ebenfalls
mindestens eins neunzig groß, und Berg fragte sich, ob sie
den Kindern hier irgendeine geheime Zutat ins Essen
mischten. Das musste Theo Herrlich sein, der Revierleiter.
Die Ähnlichkeit zwischen den beiden hörte jedoch eindeutig
bei der Körpergröße auf. Während Johanssen trotz
seines vorgerückten Alters noch immer eine athletische
Figur besaß, war Herrlichs Bauchansatz nicht zu übersehen.
»Sie müssen Thomas Berg sein«, stellte Herrlich mit zusammengekniffenen
Lippen fest. »Der Kriminalkommissar,
der sich auf eigenen Wunsch von Berlin hat hierher
versetzen lassen«, fügte er abschätzig hinzu.
Die Unfreundlichkeit überraschte Berg eigentlich nicht,
trotzdem setzte sie ihm zu. Wie ihm so vieles zusetzte seit
dem Tod seiner Schwester. Als wäre mit Kerstin auch ein
Teil von ihm gestorben, der Teil, der ihn alltägliche Dinge
wie diese meistern ließ.
Er räusperte sich und wollte gerade etwas erwidern, als
von drinnen ein Telefonläuten zu hören war und Herrlich
ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz kehrtmachte.
Verlegen murmelte Johanssen etwas von Herrlichs
schlechter Laune. »Eigentlich bin ich kein Polizist«, erklärte
er dann wieder mit fröhlicher Stimme. »Ich helfe
hier nur aus. Vor allem …« Er schwang den Besen wie eine
Waffe und strahlte Berg erneut auf diese unverwechselbare
Art an. »Vor allem, was die Ordnung angeht. Ich wünsch
dir einen guten Start. Ich bin sicher, du lebst dich hier
schnell ein. Nur Theo ist …«
Er verstummte, da der Revierleiter zurückkehrte.
»Ich würde Sie jetzt gerne mit unseren Räumlichkeiten
vertraut machen«, sagte Herrlich trocken.
Berg folgte ihm.
»Das ist also das Polizeirevier Spiekeroog, der Raum für
Öffentlichkeitsarbeit und Bürgernähe.« Herrlich öffnete
eine der Türen, und Kaffeeduft schlug ihnen entgegen.
Das Zimmer glich eher einem Korridor, die wenigen Möbel
füllten es vollständig aus, und durch das einzige Fenster
drang nicht viel Licht. In dem schmalen Gang davor
standen zwei blaue Holzstühle und eine mickrige Bank.
Die altmodische Bahnhofsuhr vervollständigte das Bild
eines nüchternen Amtszimmers. »Und hier ist unser Notruftelefon,
aber die Leute rufen uns lieber direkt an. Jeder
kennt die Nummer. In diesem Raum werden Anzeigen
entgegengenommen, verlorengegangene Kinder als vermisst
gemeldet, der übliche Kleinkram. Ich nehme an, Ihr
ehemaliger Vorgesetzter hat Sie ausreichend über die Arbeit
auf einer Insel informiert?«
»Man hat mir nur erzählt, dass hier selten etwas Ernsthaftes
vorfällt«, antwortete Berg gedehnt. Allmählich ging
ihm Herrlichs schroffe Art auf die Nerven. Außerdem
fühlte er sich zunehmend unwohl. Der Kaffeedunst bereitete
ihm Kopfschmerzen, und das Ticken der Uhr schien
in seinen Ohren anzuschwellen.
»So ist es«, fuhr Herrlich unterdessen fort. »Natürlich gibt
es auch hier schwarze Schafe. Vor allem in den Sommermonaten,
wenn die Touristen da sind, kommt es immer
mal wieder zu Ruhestörungen, Schlägereien, Diebstählen
und Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Trotzdem
bleibt alles in einem überschaubaren Rahmen. Und
bisher bin ich stets alleine damit fertig geworden.«
Berg blickte schweigend zu Boden. Er hatte sich schon gedacht,
dass er hier nicht mit offenen Armen empfangen
werden würde, als sein ehemaliger Vorgesetzter Freier ihm
die Stelle beschrieben hatte. Offensichtlich hatte er recht
behalten.
»Soweit ich weiß, hatten Sie gesundheitliche Probleme«,
begann er zögernd.
»Ach, das! Das war nichts weiter.« Der Revierleiter starrte
ihn nahezu feindselig an, dann ließ er seinen Blick über die
fleckigen Tapeten schweifen. »Es wirkt alles ein wenig ungemütlich
im Moment, aber Sie werden sehen, ein frischer
Anstrich und ein neuer Teppichboden wirken Wunder.«
»Ich bin sicher, dieses Büro erfüllt seinen Zweck«, erwiderte
Berg nur. »Und worin besteht unsere Aufgabe, wenn
es, wie Sie sagen, kaum Verbrechen auf der Insel gibt?«
Im selben Augenblick wurde ihm klar, dass diese Frage
auch Herrlichs Arbeit der letzten Jahre in Frage stellte.
Und tatsächlich war Herrlich empört.
»Soweit ich informiert bin, kehren Sie freiwillig dem KDD
den Rücken zu. Sie, Herr Berg, haben ausdrücklich um diese
Versetzung gebeten. Hier geht es nicht zu wie in Berlin.
Es gibt nicht einmal achthundert Einwohner, der Rest sind
Feriengäste. Da geht es nun einmal nicht so laut und hektisch
zu wie in der Großstadt, ob es Ihnen passt oder nicht.«
»Das ist richtig«, versuchte Berg einzulenken. »Ich freue
mich ja auch wirklich, hier zu sein.« Tat er das?
Herrlich jedenfalls wirkte ein wenig besänftigt. Er trat zurück
auf den Flur, um die nächste Tür zu öffnen.
»Und das hier ist unser Büro. Sie können den Tisch am
Fenster haben.«
Schweigend betrachtete Berg das Mobiliar. Er verbiss sich
jede Bemerkung. Immerhin waren die Wände hell gestrichen.
»Um noch einmal auf meine Frage zurückzukommen …«,
begann er abermals.
»Darf ich raten? Sie fragen sich, was ein Dorfbulle mitten
auf einer Ferieninsel zu suchen hat? Aber genau das ist
Spiekeroog. Und wenn Sie hierbleiben wollen, werden Sie
sich wohl oder übel mit den Gegebenheiten anfreunden
müssen. Wir schlagen uns hier nicht die Nächte um die
Ohren, und nach einer Discothek werden Sie vergeblich
suchen. Vom Strand bis zur Anlegestelle sind es gerade mal
fünfzehn Minuten zu Fuß, und auch die Fähre geht nicht
regelmäßig, weil wir hier von den Gezeiten abhängig sind.
Bei schlechtem Wetter oder schwachem Tidehub kommt
sie vielleicht zu spät oder auch gar nicht. Autonomie ist für
die Menschen hier wie ein Zauberwort. Jeder strebt nach
Eigenständigkeit. Die Leute wollen niemandem zur Last
fallen. Manche sind vielleicht ein wenig eigen, aber sie stehen
auf eigenen Füßen, und sie sind stolz darauf. Ich sorge
hier schon seit über zwanzig Jahren für Ruhe und Ordnung,
und ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum man Sie
überhaupt hergeschickt hat. Nun gut, jetzt sind Sie eben da.
Wir werden schon irgendwie klarkommen.«
Berg presste die Lippen aufeinander. Davon war er nicht
überzeugt.
»Wobei es, wie gesagt, kaum einmal ein größeres Problem
gibt«, redete Herrlich unermüdlich weiter. »Und sollte
tatsächlich einmal etwas vorkommen …«
Rufen wir auf dem Festland an und bitten um Hilfe, dachte
Berg verächtlich. »Und was genau tun wir den ganzen
Tag?«, fragte er dann.
»Oh, wenn wir nicht gerade auf Streife sind, widmen wir
uns vor allem dem Bürokram, lieber Herr Berg. Aber die
meiste Zeit werden Sie wohl an der frischen Luft verbringen.
Ich hoffe, Sie haben ein Fahrrad mitgebracht.«
Berg zuckte unmerklich zusammen. Er hatte gelesen, dass
Spiekeroog eine autofreie Insel war, trotzdem hatte er angenommen,
dass für die Polizei eine Ausnahmeregelung
galt.
»Kein Streifenwagen?«, erkundigte er sich.
Herrlich schenkte ihm ein überhebliches Grinsen. »Selbstverständlich
nicht. Nur die Feuerwehr verfügt über ein
Fahrzeug, dann gibt es da noch den Krankenwagen und
ein paar von diesen kleinen Elektroautos, um die Post auszufahren
oder das Gepäck zu den Hotels zu bringen. Sagen
Sie bloß, Sie haben kein Fahrrad.« Das Grinsen wurde
noch etwas selbstgefälliger.
»Bisher habe ich keines gebraucht«, antwortete Berg
schulterzuckend. »Aber dann werde ich mir eben eins zulegen.«
Herrlich nickte beiläufig und setzte sich wieder in Bewegung.
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Rest.«
Sie besichtigten einen notdürftig eingerichteten Aufenthaltsraum
und eine Abstellkammer voller Gerümpel. Den
Abschluss bildete die gekachelte Ausnüchterungszelle.
»Und hier beginnt der Privatbereich«, sagte Herrlich und
zeigte auf einen düsteren Treppenaufgang.
»Sie wohnen hier im Haus?«
»Was dagegen?«, fragte Herrlich barsch.
Berg rang sich ein Lächeln ab. »Immer im Dienst, nicht
wahr?«
Herrlich beäugte ihn misstrauisch. »Genau so ist es, auch
wenn ihr jungen Leute euch das nicht vorstellen könnt.«
Dann verlor sein Gesicht ein wenig von der Anspannung,
und er begleitete Berg zurück zur Eingangstür. »Wenn Sie
sonst keine Fragen haben, sehen wir uns am Montag. Haben
Sie schon eine feste Bleibe?«
»Ein Zimmer drüben im Pollerdiek. Nichts Großartiges,
aber für den Augenblick genügt es.« Berg schüttelte die
dargebotene Hand, dann fiel ihm noch etwas ein. »Was ist
denn mit diesem Herrn …«
Herrlich lachte. »Johanssen? Das ist unser guter Geist
hier. Auf den lasse ich nichts kommen.« Jetzt sah er beinahe
freundlich aus.
»Der Mann ist aber kein Polizist?«
»Nein.« Die Augen des Revierleiters weiteten sich entsetzt.
»Erik gehört sozusagen zum Inventar.«
Berg verkniff sich die Frage nach dem Sinn. Wenn der Revierleiter
Wert darauf legte, dass sie sich in dem kleinen
Büro gegenseitig auf die Füße traten, sollte es ihm recht
sein.
»Bis Montag dann.« Mit einem letzten Kopfnicken verschwand
Herrlich hinter der Tür.
Berg schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Es war ungewöhnlich
kalt für Juni, und der Wind zerrte an seiner Kleidung.
Nach diesem unerfreulichen Auftakt schlenderte er
unschlüssig die Straße bis zum Hafen hinunter. An der
Anlegestelle entdeckte er einen Plan der Insel. Ihre Form
darauf glich einer Raubtierklaue. Das Dorf befand sich
ziemlich weit im Westen, eingebettet zwischen Deichen
und Futterwiesen, im Norden gab es einen breiten Badestrand.
Beim Lesen der ungewohnten Straßennamen verspürte
Berg ein leichtes Brennen im Magen. Fröstelnd
schlang er die Arme um den Oberkörper und machte sich
auf den Weg, seine neue Heimat zu erkunden, auch wenn
ihm der Gedanke mit jedem Schritt weniger behagte.
Zweieinhalb Stunden später hatte Berg sich einen ersten
Überblick verschafft. Trotz aller Zweifel, ob er seinem Leben
die richtige Wendung gegeben hatte, musste er sich
eingestehen, dass die Insel einen ganz eigenen Reiz besaß.
Das viele Grün schien seine Anspannung zu mildern, und
obwohl sich erste Touristen auf den engen Straßen tummelten,
strahlte das Inseldorf eine bezaubernde Ruhe aus.
Er wusste nicht, ob er es der Seeluft zuschreiben sollte,
aber zum ersten Mal seit Wochen fiel das Gefühl des Gehetztseins
für einen Moment von ihm ab.

Das Wochenende verbrachte Berg mit ausgedehnten Spaziergängen.
Trotz des unangenehmen Windes wanderte er
stundenlang zwischen Strand und Ortschaft hin und her,
um dem stickigen Dachzimmer zu entfl iehen und seinen
Vermietern zu entkommen. Die Petrells mochten zwar
nette Leute sein, doch schon bei seiner Ankunft hatte ihn
der Verdacht beschlichen, dass hinter den freundlichen
Worten mehr steckte als die übliche Höfl ichkeit. Vor allem
Frau Petrell schien mit ihrer mütterlichen Fürsorge seine
Nähe zu suchen, aber er konnte seit Kerstins Tod keine
Nähe mehr ertragen. Nachdem er die dritte Einladung
zum Essen bedauernd ausgeschlagen hatte, hörte sie endlich
auf, ihn zu bedrängen, doch ihre Blicke verfolgten ihn
weiterhin.

Berg aß in einem Fischrestaurant zu Mittag und beobachtete
eine Gruppe von Urlaubern, die sich am Nebentisch
angeregt unterhielten. Noch bin ich einer von ihnen, dachte
er und schüttelte sich. Ab Montag gehöre ich offiziell
hierher, und es gibt niemanden, den ich für diesen Entschluss
verantwortlich machen kann, niemanden außer
mich selbst. Alle haben mir davon abgeraten, einer wie der
andere.
Das Gesicht seines Vaters fiel ihm ein, die entsetzliche
Hilflosigkeit, die er beim Abschied darin gelesen hatte,
und er wandte sich schnell wieder seinem Kabeljau zu.

Montag, 15. Juni


Am ersten Tag der neuen Woche erwachte Berg verschwitzt
und wenig ausgeruht. Nach dem Duschen
verbrachte er lange Minuten damit, seine Haare über die
runde Stelle zu kämmen, an der die Kopfhaut verräterisch
durchschimmerte und die sein Vater als »Hubschrauberlandeplatz«
bezeichnete. Als er endlich zufrieden war,
spähte er durch die Dachluke nach draußen. Er entdeckte
Frau Petrell, die mit zwei Gießkannen zu dem Gemüsebeet
schlurfte. Ihr Mann saß reglos wie eine Statue auf einer
schmalen Bank und hielt eine Zeitschrift in den Händen.
Als Berg die schmale Treppe hinunterstieg, gab er sich
Mühe, keinen Lärm zu machen. Um jeden Preis wollte er
einer Unterhaltung entgehen und verließ auf dem schnellsten
Weg das Haus.
Mit düsterem Blick schlich er durch die leeren Straßen, begleitet
nur von dem Blöken vereinzelter Deichschafe. Vor
dem Revier linste er durch die Scheibe der Milchglastür
und erkannte schemenhaft die riesige Gestalt Johanssens,
von dem er immer noch nicht sicher wusste, was er überhaupt
hier verloren hatte.
»Guten Morgen«, sagte Berg beim Eintreten.
Johanssen kramte in einem Aktenschrank.
»Moin, Kollege.« Das war alles.
Berg nickte dem Mann zu und ging schweigend weiter.
Was hatte er erwartet? Eine Willkommensparty?
Als er das hintere Büro betrat, erhob sich Herrlich umständlich
vom Schreibtisch und musterte ihn einen Moment lang.
»Pünktlich, ordentlich, bis jetzt alles in Ordnung.«
Berg starrte ihn wütend an. »Sonst noch was?«
Doch Herrlich gab keine Antwort. Er schien auf etwas zu
warten.
»Falls Sie es vergessen haben sollten, dies ist heute mein
erster Tag. Wenn Sie also so freundlich wären …«
»Ich glaube, eines sollten wir gleich klarstellen«, fiel Herrlich
ihm ins Wort. »Wenn Sie sich jemals unterfordert fühlen,
geben Sie mir rechtzeitig Bescheid. Vergessen Sie bitte
nicht, dass Sie auch hier als Staatsdiener fungieren.«
Berg schluckte jede Form von Kommentar hinunter. »Zeigen
Sie mir einfach, was ich machen soll«, forderte er
Herrlich auf.
Der Tag zog sich schmerzhaft in die Länge.
Herrlich hatte sich seit über zwei Stunden hinter dem
Computer vergraben und war noch nicht wieder aufgetaucht.
Mühsam quälte Berg sich durch die einzelnen Anfragen
und hoffte, nicht wieder mit einem Problem an Herrlich
herantreten zu müssen. Dessen selbstgefälliger Gesichtsausdruck
bereitete ihm jetzt schon Magenschmerzen.
Immer wieder musste er an die letzten Gespräche mit seinem
Vater denken und an seinen Vorgesetzten in Berlin,
der für seinen Versetzungsantrag nur ein trauriges Lächeln
übrig gehabt hatte.
»Ich weiß nicht, ob du wirklich für so ein Leben geschaffen
bist«, hatte Freier gesagt und dabei den Kopf geschüttelt.
»Durch Flucht ist noch kein Problem gelöst worden.«
Ob er am Ende recht behalten sollte?
Im Hintergrund hörte er Johanssen das Staubsaugerkabel
über den Boden schleifen. Was immer dieser Mann hier zu
suchen hatte, er schien ununterbrochen beschäftigt zu
sein. Schon heulte der Motor der alten AEG auf, und Berg
zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern.
Als Herrlich aufstand, erstarb das Summen wie auf einen
stummen Befehl.
»Ich geh dann mal los«, erklärte er gutgelaunt. »Ich hab
der Janina versprochen, noch einmal bei ihr vorbeizuschauen.
Irgendein Spinner hat ihr jetzt schon zum dritten
Mal den Gartenzaun mit Farbe vollgeschmiert.« Er blickte
stur an Berg vorbei, als hätte er sich geschworen, ihn in
Zukunft zu übersehen. »Kommen Sie hier zurecht?«, erkundigte
er sich, den Blick weiter auf die Wand geheftet.
»Wenn Sie Fragen haben, Johanssen kann Ihnen sicher alles
erklären.«
Als die Tür scheppernd ins Schloss fiel, empfand Berg regelrechte
Erleichterung. Die angespannte Atmosphäre, die
Herrlich verbreitete, war mit einem Mal verflogen. Berg
wusste, dass der Revierleiter sich durch seine Anwesenheit
gemaßregelt fühlte, und bis zu einem gewissen Grad
brachte er sogar Verständnis für Herrlichs kindische Reaktion
auf. Trotzdem hoffte er, dass sich das mit der Zeit
legen würde.
Er hob den Kopf, als er Johanssens Hand auf der Stuhllehne
bemerkte.
»Du solltest dir nicht zu viele Sorgen machen«, erklang die
beruhigende Stimme. »Theo ist kein schlechter Kerl. Der
kriegt sich irgendwann wieder ein. Ist halt einer von denen,
die sich nicht gern helfen lassen.«
Abrupt drehte Berg sich um. »Er hatte einen Herzanfall,
oder?«
Johanssen zuckte zusammen und legte den Finger an die
Lippen. »Sprich ihn lieber nicht darauf an. Ich glaube, er
schämt sich dafür.«
»Er schämt sich?«, fragte Berg verwundert.
»Mhm.« Der Riese machte ein Gesicht, als sei er dafür verantwortlich.
»Ich glaube, das ist schlimmer für ihn als die
Krankheit selbst. Er hat Angst, dass er nicht mehr gebraucht
wird. Dass sie ihn abservieren.«
Berg nickte widerwillig, trotzdem war er nicht bereit, sich
deswegen wie einen Störenfried behandeln zu lassen.



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Leserstimmen

 

Friesensturm ist ein solider Ermittlerkrimi - man merkt beim Lesen, dass sich die Autorin mit den Figuren lange auseinandergesetzt hat.
Und auch, die Szenerie mit den manchmal etwas kauzigen Menschen auf Spiekeroog, die eine "eingeschworene Gemeinschaft" bilden, ist total stimmig.

Zuerst hatte ich überlegt, das Printbuch zu kaufen.
Friesensturm: Kriminalroman Aber da es bis März noch so lang ist... Auf die Autorin bin ich durch die anderen KG hier aufmerksam geworden. Und: Es hat sich in jedem Fall gelohnt, das Werk zu kaufen! Macht sehr viel Spaß zu lesen. (Bira)

 

Nachdem ich schon von Frau Böcklis Horrorgeschichten begeistert war, hab ich mir jetzt ihren Nordseekrimi gekauft, und auch dieses Buch hat mich von der ersten Zeile an gefesselt, und das obwohl die eigentliche Handlung sich erst nach einigen Seiten so richtig entfaltet und dann immer undurchsichtiger wird. Was mir hier wahnsinnig gut gefallen hat, war die bedrückende Atmosphäre, in die ich mich als Leser so richtig reinfallen lassen konnte und die Figuren, die herrlich lebensecht und teilweise auch witzig dargestellt sind. Von mir gibt es die volle Punktzahl.(Helga S.)

 

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